Zu müde für den Bunker

13.03.2022, veröffentlicht in Spiegel

 

Montag, 7. März

Eine Lebensform, die alles verschluckt

Es fällt mir heute schwer, mich zu konzentrieren und eine Übersicht über das zu bekommen, was passiert. Der Krieg dauert, und ich bin irgendwo in der Mitte der Ereignisse, die sich chaotisch um mich herum entwickeln. Die friedliche Zeit scheint unerreichbar weit weg zu sein, neue Gesetze und eine neue Realität entfalten sich.

Ich bekomme eine Nebenkostenabrechnung für meine Kiewer Wohnung. Sie wird begleitet von einer Telegram-Nachricht, die wie eine Entschuldigung klingt: »Wir wenden uns an Sie mit der Bitte, falls es Ihre finanziellen Möglichkeiten unter diesen Umständen erlauben, die Nebenkosten zu bezahlen. Viele Mitarbeiter der Versorgungsunternehmen von Kiew traten der ukrainischen Armee bei und kämpfen jetzt für unsere Freiheit. Es ist aber immer noch wichtig, die Rechnungen zu begleichen.«

Derselbe Text stand auf der Website der Kiewer Versorgungsunternehmen. Ich erinnerte mich an die Gesichter der Mitarbeiter dieser Betriebe, die mit dem Krieg unvereinbar waren. Wohin mein Blick auch fällt, überall sehe ich Krieg, es ist eine totale, umfassende Lebensform geworden, die alles verschluckt.

Tagsüber traf ich einen alten Freund, einen Historiker und Soziologen, der weit entfernt am anderen Ende der Stadt lebt. Früh am Morgen besuchte er das Zentrum, um die Mutter eines Freundes zur Evakuierung zu begleiten.

Sie blieb am Bahnhof, mit vier kleinen Taschen und einem Koffer, obwohl mein Freund sie bat, nur eine tragbare Tasche mitzunehmen. Ich hörte ihre Stimme am Telefon, sie weinte, als sie die Schwierigkeiten beim Einsteigen in den überfüllten Zug beschrieb, dann weinte sie wieder, als sie erklärte, sie sei jetzt im Wagen und habe Platz bekommen.

Mein Freund findet keine Ruhe. Gestern hat er seinen Onkel aus einem teilweise ausgebrannten Dorf nahe Kiew evakuiert, jetzt sucht er weitere Telefonnummern von all jenen, die noch im Dorf geblieben waren. In diesem gemütlichen Dorf, das Horenka heißt, wurde bereits am 28. Februar die Apotheke beschossen und zerstört. Anfang März wurde Horenka immer wieder mit den Grad-Raketen beschossen.

Von vielen Häusern sind nur noch einige tragende Wände geblieben. Ich war mehrmals dort, aber auf den Bildern, wo die Ruinen dokumentiert sind, erkenne ich nichts mehr. Zwei Postmitarbeiter, die versucht haben, im Oblast Saporischschja die Rente an ältere Leute zuzustellen, die das Geld nicht mehr selbst abholen können, wurden in ihrem Postwagen erschossen.

Ich kann mir so einen Postwagen aus der Ukraine sehr gut vorstellen, mehrmals sah ich, als ich jung war, wie die Mitarbeiter meiner Oma die Rente zugestellt hatten. Meine Oma war schwach und konnte die Wohnung nicht mehr verlassen. Sie war aber sehr stolz, wenn ihr die kleine, durch die Inflation sich rasch entwertende Rente persönlich übergeben wurde. Sie war mit der Postmitarbeiterin fast befreundet. Immer führten sie ein kleines höfliches Gespräch, in meiner Erinnerung sahen die beiden dabei glücklich aus. Zwei Frauen, die einander das Geschenk der Anwesenheit und der Unterstützung machten.

Die Zustellung der Rente war ein Symbol der Fürsorge, sie war mehr eine menschliche Geste als eine Fürsorge des korrumpierten Staates. Ich kann mir ein Postauto vorstellen, aber es liegt außerhalb meiner Fantasie mir vorzustellen, wie so ein Wagen beschossen werden kann.

Ich wünsche allen, die etwas zustellen, die für jemanden sorgen, dass sie morgen sicher ihre Zielorte erreichen. An diesem 8. März geht es mir darum. Ich denke an die, die sich trotz Lebensgefahr weiterhin um die Menschen im Land kümmern und versuchen, jemanden zu erreichen.

 

Dienstag, 8. März

"Die Nacht ist noch jung"

Als ich das heutige Datum in mein Word-Dokument eintrug, sah es verdächtig und unnatürlich aus. Die Zeit läuft weiter, ein Tag nach dem anderen, der Ablauf ist gesichert, nach der Helligkeit kommt die Nacht. Dabei richtet sich fast alles, was passiert, gegen einen Lebenszustand – ich möchte nicht sagen: »gegen eine Normalität«. Ich suche nach einem passenderen Wort, kann es aber nicht finden. Das Wort soll eine totale Zerstörung beschreiben, gleichzeitig aber die Möglichkeit offenhalten, dass vieles noch gerettet werden kann.

Heute habe ich einer Journalistin ein Interview gegeben. Ich hatte mich etwas verspätet, aber dann unterhielten wir uns doch. Einige Fragen waren unangenehm, aber ich konnte nicht aufhören, sie zu beantworten. Die Journalistin fragte mich: Wenn ich Sie höre, scheint alles um Sie herum zu funktionieren, Sie reden über die Menschen auf den Straßen … Wie merkt man überhaupt, dass der Krieg wirklich da ist?

Die Frage quälte mich. Ich suchte nach einer Antwort und spürte, wie ich mich zu rechtfertigen begann, wie ich durch die Beschreibung des Krieges die Katastrophe zu beweisen versuche – als ob es noch einen Zweifel daran geben könnte, dass der Krieg stattfindet. Die Katastrophe kann man in diesem Ausmaß aber kaum beschreiben, man kann sie nur stoppen. Es ist das Einzige, was man damit tun muss.

Wenn ich den Frauen, die ich heute vor der Apotheke traf, erzählte, dass ich ein öffentliches Tagebuch schreibe, sagten mir die meisten nur eines: »Die Welt muss uns helfen, den Himmel über der Ukraine zu schützen. Können Sie das weitergeben?«

Vor meinen Augen sehe ich die maskenhaften Gesichter von russischen Piloten, die durch Glück den Abschuss ihres Flugzeugs überlebten und festgenommen wurden. Teile ihres Verhörs waren als Videoclips auf Telegram zu sehen. Sie sagten: Wir wissen nicht, ob unsere Bomben jemanden treffen, wir bekommen nur die Koordinaten für die Luftangriffe, und dann folgen wir den Befehlen.

Eine Freundin, die aus einer Kleinstadt außerhalb von Kiew evakuiert wurde, erzählte mir, dass in den Stadtteilen, die von Putins Armee kontrolliert werden, friedliche Menschen gefangen genommen werden. Die russische Armee bricht in die Privathäuser ein und nimmt ganze Familien mit. Wie oft passiert das? Wie viele sind bereits auf diese barbarische Art gefangen genommen worden? Wo sind diese Menschen jetzt?

Die besetzten Stadtteile, Dörfer, Kleinstädte sind oft am wenigsten sichtbar. Sie versinken zu schnell in einer Nachrichtenblockade. Oft gibt es keine Elektrizität mehr, es ist schwer, den Kontakt in diese Gegenden zu halten. Die anderen Stimmen, die über ihre Not berichten, hört man viel lauter. Man will sie hören, weil man den Zugang hat, weil man sofort helfen kann – oder wenigstens hofft, helfen zu können.

Putin verlangt die Anerkennung der besetzten Gebiete im Donbass und im Oblast Luhansk. Alle Dörfer, alle Städte, die man seiner Macht überlässt, werden von den Besatzern zum Schweigen gebracht. Auch unter den Umständen des Terrors, den die Ukraine gerade erlebt, ist es unvorstellbar, dieses weitere Verschlucken von Dörfern und Städten zuzulassen.

Als ich heute meine Wohnung verließ, sah ich eine leere Straße. Keine Autos, keine Fußgänger. In solchen Momenten wirkt Kiew wie eine Stadt, die erst noch bewohnt werden muss, wie eine Stadt ohne Gegenwart, nur mit Vergangenheit und Zukunft. Einige Schritte weiter sah ich zwei Fußgänger, beide hielten eine Blume in der Hand. Eine Tradition, die durch die kalte Wand des Krieges brach, lautet: Am 8. März, dem Weltfrauentag, soll man Frauen Blumen schenken. Neben der Apotheke entdeckte ich viele Frauen mit Blumen, die sich auf ein langes Warten in der Kälte vorbereitet hatten. Ein Auto hatte an der Apotheke angehalten, jemand war ausgestiegen und hatte an die Wartenden Blumen verteilt.

Diese Großstadt lebt weiter. Irgendwo gibt es noch Blumen. In den geschlossenen Restaurants wird das Essen für die Verteidigung von Kiew gekocht. Die älteren Damen und Herren, die sich in einem Seniorentheater als Schauspieler betätigten, bleiben zusammen. Meine Mutter hatte vor einigen Jahren die Regie in diesem selbst organisierten Theater übernommen, es trägt den Namen »Die Nacht ist noch jung«.

Jetzt helfen diese älteren Schauspielerinnen und Schauspieler der Territorialverteidigung von Kiew. Sie wollen die Stadt nicht verlassen. Ich muss hinzufügen, dass diese begabten Menschen Hunderte Gedichte auswendig können und wunderbar singen, sie schreiben auch manchmal die Dramaturgie für ihre Inszenierungen selbst – und dabei fällt es einigen von ihnen schwer, selbst die Bühne zu betreten. Jetzt wollen sie nicht nur helfen, sie wollen der Territorialverteidigung beitreten. Ich versuche, mir das vorzustellen, und denke plötzlich: Mit solchen Verteidigern kann dieser Stadt nichts passieren.

 

Mittwoch, 9. März

Fehler in der Landschaft

Heute ging ich endlich mal wieder fast ohne Angst die Landschaftsallee entlang, eine der schönsten und beliebtesten Straßen in Kiew. Es ist eine Allee mit einem herrlichen Ausblick auf das linke Dnjepr-Ufer und die Wohnviertel von Kiew. Man nennt diese Allee auch Skulpturenpark, sie läuft an alten Kiewer Häusern vorüber bis zum Historischen Museum. An den meisten Tagen seit dem Kriegsbeginn war diese Allee wie ausgestorben, offenbar war sie zu ungemütlich geworden, weil sie offen und ungeschützt ist.

Inzwischen wird sie von jenen besucht, die in Kiew geblieben sind, in der Nähe wohnen und dort mit ihren Hunden spazieren gehen. Es sind sehr wenige Passantinnen und Passanten, aber die Landschaftsallee ist nicht mehr völlig leer wie zu Beginn der Angriffe.

Die Sirenen kündigten Luftalarm an, ich blieb aber trotzdem stehen und genoss den Ausblick. Dann bemerkte ich in der Ferne eine große weiße Rauchwolke. Irgendwo brannte etwas. Ich schaute auf Telegram nach, fand aber keinen Hinweis darauf, was es sein könnte.

Die Landschaft sah verträumt aus, und nur dieses weit entfernte Zeichen eines Feuers deutete auf einen Fehler in der Landschaft hin. Dann hörte ich eine schluchzende Männerstimme, die sich mir näherte.

Ein offenbar obdachloser Kiewer ging durch die Allee mit einem alten Rucksack. Er hatte Plastiktüten um die Schuhe gewickelt, um seine Füße zu wärmen. In seiner Hand trug er eine kleine, halb ausgetrunkene Wodkaflasche. Dabei sprach er sehr laut in sein Handy und erkundigte sich immer wieder, wie es jemandem gehe. Bei jeder Antwort brach er erneut in Schluchzen aus, wie ein Kind, immer wieder. Ich verstand bruchstückhaft, dass es um eine Evakuierung ging. Ich holte ihn ein und steckte ihm etwas Geld zu, er nahm es an, ohne das Gespräch zu unterbrechen.

Wohin ich gehe, sehe ich meist höfliche, fürsorgende, ruhige Gesichter. Angestellte von Lebensmittelläden, Freiwillige, Soldaten und Mitglieder der Territorialverteidigung. Ich treffe auch erschöpfte, traurige Menschen, vor allem Ärzte. Aber das Weinen hörte ich zum ersten Mal seit dem Anfang des Krieges. So schien es mir in diesem Moment.

Auf Telegram habe ich gelesen, dass einige Bewohner der umkämpften Stadt Tschernihiw zu Fuß geflohen sind. Vielleicht waren Bekannte oder Freunde von ihm darunter? Sie evakuierten sich selbst, ohne auf Transporte zu warten. Und dann wurden sie auf dem Weg außerhalb der Stadt beschossen. Einige kamen ums Leben. In Mariupol wurden ein Kinderkrankenhaus und eine Geburtsklinik durch einen Luftangriff zerstört. Die Menschen in Mariupol sind weiterhin ohne Strom, Wasser, Lebensmittel und Medikamente, viele sind durch die Angriffe gestorben. Weitere Kriegsereignisse dieses Tages stehen grau vor den Türen meines Gedächtnisses.

Ich ging ins Stadtzentrum, wo unter freiem Himmel ein kleines Konzert stattfand. Ich hatte noch das laute Weinen des Obdachlosen im Ohr. Hier in Kiew, dachte ich, hat man sich mit tränenlosen Augen daran gewöhnt, die unendlichen Tage des Krieges zu erleben und weiterzuarbeiten, jede Stunde, jede Minute etwas zu leisten, etwas zu organisieren, jemandem zu helfen. Ein kleiner Laden neben meinem Haus, wo fast täglich Brot und Eier verkauft werden, ist nur deswegen geöffnet, weil der Mitarbeiter beschlossen hat, in dem Laden zu übernachten.

Eine Ärztin erzählte mir heute, dass sie am 24. Februar zur Arbeit kam und seitdem nicht mehr nach Hause gefahren sei. Für die meisten Kiewer, die weiter an den Kassen von Lebensmittelläden stehen oder Kranke versorgen, ist die tägliche Fahrt zur Arbeit zu aufwendig und zu unsicher geworden. Das meiste von dem, was in dieser Drei-Millionen-Stadt noch funktioniert, ist nur deswegen da, weil jemand tagelang nicht im eigenen Bett schläft und für andere fast rund um die Uhr verfügbar ist.

 

Donnerstag, 10. März

Illusionen

Ein Tag in einem Tagebuch scheint eine in sich abgeschlossene Einheit zu sein. Ein Eintrag nährt die Illusion, dass man daraus Schlussfolgerungen ziehen kann, es ist die Illusion einer logischen Erzählung.

Dieser Krieg verfügt über viele solcher Illusionen. Zum Beispiel, dass er ein Vorwort hatte, das dem Beginn der Aggressionen vorausging: Die russischen Divisionen versammelten sich an der Grenze der Ukraine, Politiker kündigten den Krieg an, Diplomaten verließen das Land. Der Krieg folgte einer Erwartung, einer Vorhersage, wie ein Theaterstück, bei dem die Handlung in einer Präambel erzählt wird, wie eine verwirklichte Wahrsagung.

Ich kann mir immer noch schwer vorstellen, was passiert, wenn man im Voraus erfährt, dass ein Krieg vor der Tür steht, ein Krieg, dessen Kreislauf es ist, friedliche Städte mit Bomben zu terrorisieren und Tausende Menschen zu ermorden. In den Nachrichten stand heute: Die Verluste der ukrainischen Zivilbevölkerung sind viel höher als die beim Militär.

Ich vermute, dass vor dem Beginn des Krieges sogar die Politiker, die ihn prophezeit haben, selbst nicht daran glaubten und immer wieder gehofft hatten, dass der Krieg zu vermeiden sei. Sonst hätte die Welt alles getan – oder viel mehr als alles – um diesen Abgrund nicht zuzulassen. Der Krieg war unrealistisch, absurd, man konnte ihn sich nicht vorstellen. Wenn man inmitten des Krieges aufwacht, bleibt er genauso: immer noch unvorstellbar.

Aber auf der Ebene der Politik kam zu dieser schwachen Vorstellungskraft noch die Angst vor einem riesigen Phantom dazu, das eine korrumpierte und aggressive Diktatur mit ihrer Propaganda jahrelang aufgebaut hatte. Dieses Phantom hat es sogar geschafft, sich selbst davon zu überzeugen, dass es so mächtig sei, die Ukraine mit einem Blitzkrieg innerhalb weniger Tage einnehmen zu können. Es sollte für die Soldaten wie Urlaub werden – da begrüßt man sie mit Blumen. Ein schneller Sieg wäre sicher.

Die Angst hat uns die Hände gefesselt, Vorsicht schien eine weise Entscheidung zu sein. Alle haben abgewartet, bis die Katastrophe wirklich begann. Nun muss ich in Kiew zusammen mit der ganzen Welt zuschauen, wie Häuser, Menschenleben und Erinnerungen in einem riesigen Feuer verschwinden.

Und dann werden, inmitten des Krieges, des sinnlosen Sterbens, der Verletzungen, der Leiden und Verluste, weitere Verbrechen angekündigt. Fast täglich meldet sich Russland mit alten und neuen Forderungen, es sind immer territoriale Ansprüche. Wieder wird ein neues Vorwort in der Kriegserzählung geschrieben. Werden die Forderungen abgelehnt, weitere Territorien mit den dort lebenden Menschen zu verschenken, kündigt Russland noch mehr Krieg an, noch mehr Tod.

Während ich schreibe, ruft eine Freundin an und erzählt, dass ihre Mutter, die noch in Charkiw lebt, vom Balkon aus einen Mann entdeckte, der auf der Straße vor ihrem Haus auf Russisch die Koordinaten für einen Bombenanschlag weitergab. Er war offenbar ein »Navodchik«, ein angestaubtes Wort aus einer anderen Ära, was so viel wie Geschützführer oder »Gunner« bedeutet – jemand, der entscheidet, wohin der nächste Schlag fallen soll, und dabei hilft, friedliche Bezirke zu beschießen. Neben dem Haus soll eine Lebensmittelverteilung organisiert werden. Vielleicht hat der Navodchik deshalb diese Stelle gewählt.

Der Vater einer anderen Freundin ist in Charkiw geblieben, weil die Mitarbeiterinnen seiner kleinen Firma die Stadt nicht verlassen können. Er hoffte, vor Ort den Menschen helfen zu können. Tagelang überstand er die Raketen- und Mörserangriffe unbeschadet. Jetzt versucht meine Freundin, für ihn psychologische Hilfe zu finden, in einer Stadt, die unter Beschuss liegt. Ihr Vater kann nicht mehr verstehen, wo er ist und was um ihn herum passiert.

In Charkiw wurden die Tiere in einem kleinen Privatzoo in den ersten Kriegstagen verletzt. Die Mitarbeiter des Zoos blieben in der Stadt, um die Tiere zu pflegen. Heute wurden einige von ihnen verletzt, als sie auf dem Heimweg aus dem Zoo gezielt beschossen wurden. Manche starben.

Eine Bekannte von mir hat zwölf Tage lang in einem Keller einer Kleinstadt außerhalb von Kiew verbracht, ohne Licht, fast ohne Essen. Sie wurde heute gerettet.

Ich selbst wurde heute auf der Straße in Kiew von einem älteren Ehepaar festgenommen. Das Ehepaar bemerkte, dass ich mit meiner Kamera hantierte und Fotos machte, und hatte den Verdacht, dass ich für Russland spionieren könnte. Sie brachten mich zu einem Kontrollposten in der Hoffnung, dass ich entwaffnet werden würde. Dabei wollte ich doch nur ein hoffnungsvolles Foto in der Stadt machen. Ich wollte zeigen, dass ein Essenslieferdienst in Kiew wieder funktioniert, der Lebensmittel zu älteren oder kranken Menschen bringt. Die wenigen in der Stadt verbliebenen Mitarbeiter gehen mit den Lieferungen jetzt zu Fuß durch die Stadt! Das bedeutet, dass diejenigen, die gerade Hilfe brauchen und nicht selbst einkaufen können, ein wenig mehr Sicherheit und Fürsorge haben werden.

 

Freitag, 11. März

Musik

Die Fenster in meinem kleinen Zimmer sind mit Bettbezügen verdunkelt, es brennt ein Licht, und es ist sehr gemütlich. Eine App auf meinem Handy kündigt mit einer Frauenstimme an: »Der Luftalarm ist beendet.« Es ist einer der Momente, in denen ich denke, etwas Fundamentales entdeckt zu haben. Ich habe verstanden, wofür die Fotografie zu gebrauchen ist. Mich beschäftigt die Fotografie schon lange, aber ich habe sie nie so praktisch verstanden wie jetzt.

Nur mithilfe von Fotos und Bildern kann ich mich an den Verlauf meines heutigen Spaziergangs erinnern. In diesem Alltag des Krieges ist nur etwas Fremdes, Zusätzliches, fast Mechanisches wie die Fotografie dazu fähig, die Abläufe und Erinnerungen zusammenzuhalten.

Als ich spazieren ging, war ich in Gedanken noch bei den Morgennachrichten und beachtete die Straße kaum. Mit einer tiefen Traurigkeit musste ich mir die Möglichkeit eingestehen, dass wir letztlich dazu gezwungen werden könnten, Kiew zu verlassen. Es war schon lange klar, aber heute kam mir diese Möglichkeit wieder in den Sinn.

Dann dachte ich, wenigstens jetzt, wo ich noch in Kiew bin, muss ich jede Minute schätzen und mich umschauen – die Stadt sehen, die Straßen, die Menschen. Das war eine etwas naive Entscheidung. Schnell versank ich wieder in die Gedanken und merkte kaum mehr, was um mich herum ablief.

Die Soldaten der Territorialverteidigung wärmten ihre Hände. Ich sah zwei schöne Gesichter junger Frauen, die mir lachend erzählten, dass sie der »Freiwilligen-Armee der Ukraine« angehörten. Sie gaben mir ihre Telefonnummern. Vielleicht treffen wir uns noch, sagten sie.

Etwas später hörte ich, ziemlich unerwartet, Musik. Ich lief gerade durch den Skulpturenpark die Allee entlang. Von Weitem hörte ich Trommeln, ein melodisches Pfeifen und Glocken. Die Musik kam von den Hügeln. Ich hörte sehr aufmerksam zu und das Spielen wurde mit jedem Schritt etwas lauter. Dann sah ich eine kleine Gruppe Männer und Frauen mit Musikinstrumenten, die in der Ferne Musik spielten. Sie bestand aus der Kombination unterschiedlicher Fragmente, Töne und Pausen. Verzaubert hörte ich zu. Sie näherten sich mir und gingen mit freundlichen Blicken vorüber. Ich war so beeindruckt davon, diese Musiker gesehen und gehört zu haben, dass ich mich nicht mehr erinnern konnte, was danach passierte.

Nur die Bilder, die ich weiterhin versuche zu machen, rufen eine zweite wichtige Szene hervor. In der Stadt waren Kommunalarbeiter von Kiew unterwegs und machten mit Farbsprühdosen die Stadtpläne für Touristen vom Kiewer Stadtzentrum unkenntlich, die auf Tafeln überall im Zentrum zu sehen sind. Die Arbeiter wurden von bewaffneten Mitgliedern der Territorialverteidigung begleitet. Ich konnte unter der Bedingung Fotos machen, dass auf den Bildern kein Gesicht zu erkennen ist.

Jetzt springt meine Erinnerung zu einer Episode, die ebenfalls mit Musik zu tun hat: Am 8. März, dem Internationalen Frauentag, ging ich mit meiner Mutter zur Apotheke. Auf dem Weg trafen wir eine ältere Frau mit einer Rose. Meine Mutter sprach die Frau an, sie unterhielten sich und tauschten Kontakte aus, um einander im Notfall helfen zu können.

Dann begann die Frau ein Gedicht zu rezitieren, das sie während des Krieges auf Russisch geschrieben hatte. Es ging um die Diktatur, den Krieg, und am Ende gab es ein Versprechen, dass das absolut Sinnlose und Böse nie gewinnen kann. Die Frau trug ein Kopftuch und sah dabei bescheiden aus, aber die Melodie ihrer Verse klang musikalisch und treffend.

Die Tafeln mit den Touristen-Stadtplänen wurden deshalb übermalt, damit die Saboteure, die immer wieder versuchen, nach Kiew und in andere Städte vorzudringen, die Pläne nicht zur Orientierung benutzen können. Es heißt, dass sie oft keine Smartphones haben und sich in den Siedlungen und Straßen verlieren.

Die Nachrichten von heute waren schauderhaft. Ich denke aber an die Lieder, die die Menschen hier trotzdem singen, an die Musik.

Der Luftalarm geht wieder an. Ich warte und hoffe, dass der Himmel bald geschützt wird.

 

Samstag, 12. März

Zu müde für den Bunker

Es war eine schlaflose Nacht. Die Sirenen, die Luftalarm über der Stadt auslösten, weckten mich immer wieder auf. Ich war aber zu müde, in den Schutzbunker zu gehen. Ich hörte Explosionen und hoffte, dass niemand verletzt wurde. Dann versuchte ich herauszufinden, was gerade los ist, aber auf Telegram wurde immer über etwas anderes berichtet, über andere Städte. Es ging um die Blockaden, die russische Einheiten um die Städte herum bilden, und die Einwohner, die Tag und Nacht in einem Albtraum der Belagerung verbringen.

Mein Plan für den Tag war, die kugelsichere Weste abzuholen, die endlich zugestellt wurde. Dann wollte ich eine Dame besuchen, die als eine Art Concierge auf ein Haus in der Nachbarschaft aufpasst und darauf achtet, wer kommt und geht. Es gibt viele solcher Aufpasserinnen in der Stadt, seit Beginn des Krieges hatte die Dame allerdings eine Zusatzaufgabe übernommen – sie musste schauen, dass aus den verlassenen Wohnungen nichts gestohlen wird. Ihr Name erinnerte mich an meine Kindheit und klang gemütlich: Dussia.

In der Nacht hat mich immer wieder die Angst überfallen. Die Sirenen mit ihren langen, wehmütigen Trompetentönen machten mich unruhig. Ich stellte mir vor, wie bewaffnete Fremde in Kiew einfallen, um jede Straße, jedes Haus, jede Besonderheit dieser Stadt zum Schweigen und Verschwinden zu bringen. Immer wieder sagte ich mir, es ist nur eine kurze Panikattacke, es wird bald vorbei sein.

Als ich Dussia zum ersten Mal anrief, spürte ich in ihrer Stimme Zärtlichkeit und Unruhe. Sie freute sich, dass ich mich im Auftrag einer aus dem Haus geflohenen Person nach ihr erkundigte. Niemand kann sie bei ihrer Wache ablösen, weil sie allein ist, sie lebt auch in dem Haus, in dem sie arbeitet. Auch ich klang für sie zuerst verdächtig, deshalb wollte sie sich in einem längeren Telefonat davon überzeugen, dass sie mir vertrauen kann. Sie hat inzwischen sogar Angst, einkaufen zu gehen.

Ich besuchte sie in ihrem kleinen Concierge-Zimmer im Erdgeschoss des Hauses. Es war nur Platz für einen Tisch und ein Sofa, der Fernseher lief. Sie sagte: »Viele gehen jetzt aus Kiew weg, ich habe aber keinen Ort, an den ich fliehen kann. Meine Verwandten wohnen außerhalb von Tschernihiw, und Sie wissen doch, was da gerade passiert. Wohin soll ich gehen? Wohin kann ich fahren?«

Ich sah in ihrem Gesicht Ratlosigkeit, aber sie hatte sich entschlossen zu bleiben, wo sie ist. 15 Familien sind noch in dem großen Wohnblock geblieben, auf den sie aufpasst, sie wollen sich auf Dussia verlassen können. Ich versuchte, mit nicht besonders geschickten Scherzen ihre Stimmung aufzuheitern. Als sie mich anlächelte, freute ich mich und entschied, sie bald wieder zu besuchen.

Am Abend erreichte mich die Nachricht meiner Freundin. Eine Gruppe von Frauen mit Kindern habe heute aus einem besetzten Dorf außerhalb Kiews zu Fuß fliehen wollen, schrieb sie. Das Dorf trug einen Namen, der noch aus sowjetischen Zeiten stammt: »Sieg«.

Als die Frauengruppe das Dorf verließ, wurde sie beschossen. Sieben Frauen und ein Kind kamen dabei ums Leben. Meine Freundin erzählte mir, dass sie verstehe, warum die Ukrainer das Wort Genozid benutzen, wenn sie diesen Krieg beschreiben. Ich weiß nicht, ob es das richtige Wort dafür ist, ich sah nur diese Nachricht und las sie wieder und wieder.

Wenn ich hin und wieder die Leserkommentare unter meinem Tagebuch anschaue, sehe ich oft Einträge, die auf ähnliche Weise argumentieren. Ich kenne diese Sätze auch aus analytischen Artikeln, wo »Experten«, die jahrelang Gegner des russischen Regimes spielten, ihre vermeintlich unabhängige, aber immer gleiche Meinung äußerten: Dieses Regime ist unmenschlich, mörderisch, leider, aber auch sehr gefährlich und unvorhersehbar. Wir können uns nicht wirklich vorstellen, was dieser schauderhafte Mensch der Welt antun kann, wenn er in der Ukraine den Krieg verliert. Gewinnt er aber, dann gewinnt auch die Welt etwas Zeit, um sich vorzubereiten, um nachzudenken, um die Situation besser zu verstehen.

Diese Art von Argumentation soll die Welt belehren: Wenn man sich kaum einmischt, dann wird das Leiden schon nicht so groß werden. Die Angst wird weiterhin erfolgreich verkauft, auf sie werden keine Sanktionen verhängt.

Die Folgen dieses Denkens, das von 1000 verschiedenen Stimmen bei allen großen Verbrechen der Welt in vielen Sprachen verbreitet wurde, erleben wir jetzt. Es geht nicht nur darum, dass sich die Geschichte und das Leiden wiederholen und immer wieder wiederholt werden können, sondern auch um die Gewohnheit, Opfer zu bringen und Gewalttäter und Monster zufriedenzustellen.

Dabei zeigt dieses Monster derzeit seine Stärke, indem es Frauen und Kindern angreift, die »Sieg« zu Fuß verlassen und sich gegen seine schweren Waffen nicht wirklich schützen können.

 

Sonntag, 13. März

Ein unerwartetes Geschenk

Wenn die Dämmerung kommt, mache ich in dem Zimmer meiner Wohnung, in dem ich lese, so viel Licht an, wie ich nur kann. Draußen ist es noch hell, und der Kontrast zu meinen Fenstern ist nicht allzu groß. Es ist zu dieser Zeit noch nicht gefährlich, die Wohnung zu erleuchten. Diese Überbelichtung meines Zimmers dauert nur 30 oder 40 Minuten, dann kommt der Abend, den ich in der beinahe dunklen Wohnung verbringe.

Heute möchte ich über zwei Treffen schreiben. Ich war auf dem Weg zu der Straße in Kiew, in der ich einige Jahre lang wohnte. Mit Verwunderung sah ich, dass in einem gemütlichen Caféhaus, das wie die meisten Cafés in der Stadt seit dem Beginn des Krieges geschlossen war, einladende Lichter brannten. Ich ging hinein und bestellte einen Cappuccino, ein Getränk, das ich während des Krieges immer wieder in Kiew zu finden versuche und, wenn ich erfolgreich bin, jedes Mal auf neue Weise genieße.

Es ist ein Spiel, das ich mit mir selbst spiele. Ich frage mich täglich, ob ein Kaffeekiosk auf meinem Weg geöffnet sein wird. Wenn ich eine Tasse bekomme, freue ich mich riesig, als ob ich ein unerwartetes Geschenk bekommen habe.

Das Caféhaus war geöffnet, weil ein Mitarbeiter, der noch vor dem Krieg gekündigt hatte, den Besitzern anbot, allein zu arbeiten. Dieser ehemalige Mitarbeiter heißt Aleksej, er hatte an dem Tag Geburtstag, den er nicht feierte. Er sagte zu mir: »Ich wollte wenigstens etwas tun, habe es mir gut überlegt und beschlossen, dass es das Beste ist, das Café zu öffnen.«

Er hat keinen Ort, an den er fliehen könne, meinte er, weil er nach dem Krieg im Donbass im Jahr 2014 aus dem Oblast Luhansk geflohen sei. Kiew will er nun nicht mehr verlassen. Seine Familie ist jetzt irgendwo in der Nähe von Luhansk, er denkt immer wieder an seine Eltern und seine Schwester, die in den besetzten Gebieten wohnen, und die er jahrelang nicht gesehen hat.

Über seinen Geburtstag sagte Aleksej, der Barista: »Alles hat seinen früheren Sinn verloren. Erst gestern erinnerte ich mich daran, dass ich heute Geburtstag habe. Außerdem ist es Sonntag.« Ich sagte, dass morgen, am Montag, vielleicht mehr Besucher ins Café kommen würden. Dann mussten wir beide lachen, weil es keinen Unterschied mehr ausmacht, ob es Sonntag, Montag oder Freitag ist. Die Einschnitte im Lebensrhythmus werden im Krieg anders bestimmt und kommen ohne Vorankündigung.

Dann traf ich ein Ehepaar mit zwei kleinen Hunden. Die Frau hieß wie ich, Yevgenia. Die beiden behaupteten, aus Tschernihiw geflohen zu sein. Später sagten sie, dass sie aus Vorsicht, die diese Zeit von jedem fordere, nicht die richtige Stadt genannt hätten. In Wirklichkeit stammen sie beide aus dem Oblast Kiew, aus einem Dorf am linken Dnjepr-Ufer.

Sie sind beide 85 Jahre alt, zusammen mit anderen vier geflüchteten Verwandten seien sie bei der Familie ihrer jungen Enkelkinder untergekommen, die in einer kleinen Wohnung in Kiew wohnen. Die Kinder hätten ihr eigenes Leben, was mehr als normal ist, aber könnten nur hierherkommen. Sie könnten sich nicht vorstellen, noch weiter von ihrem Dorf wegzufahren als bis hier, sagten die beiden.

Ihre Hunde, erzählten sie weiter, könnten die Raketen und Explosionen nicht mehr ertragen, dennoch seien sie bis zum letzten Moment zu Hause geblieben und erst dann nach Kiew umgezogen. Der Mann schaute mich an. Er fragte mich: »Haben Sie wenigstens hier einen Ort, an dem Sie wohnen können?« Ich nickte nur, das »Ja« konnte ich kaum aussprechen.

 

13.03.2022, veröffentlicht in Spiegel