Der Anfang

27.02.2022, veröffentlicht in Spiegel

 

Donnerstag, 24. Februar

Der Anfang

Heute bin ich früh am Morgen aufgewacht und sah acht unbeantwortete Anrufe auf meinem Mobiltelefon. Es waren meine Eltern und einige Freunde. Erst dachte ich, es sei etwas mit meiner Familie passiert und meine Freunde würden versuchen, mich zu erreichen, weil meine Eltern aus irgendeinem Grund meine Freunde alarmiert hatten. Dann ging meine Fantasie in eine andere Richtung, und ich habe mir einen Unfall vorgestellt, eine Gefahrensituation im Zentrum von Kiew, etwas, worüber man seine Freunde warnt. Ich fühlte eine kalte Unruhe. Ich rief meine Cousine an, weil ihre schöne Stimme auf mich immer beruhigend wirkt, mutig und rational. Sie sagte nur: Kiew wurde beschossen. Ein Krieg ist ausgebrochen.

Vieles hat einen Anfang. Wenn ich über den Anfang nachdenke, stelle ich mir eine Linie vor, die ganz klar durch eine weiße Fläche gezogen wird. Das Auge beobachtet die Schlichtheit einer Spur der Bewegung, die ganz sicher irgendwo beginnt und auch irgendwo wieder enden wird. Ich habe mir aber noch nie den Anfang eines Krieges vorstellen können. Seltsam. Ich war im Donbass, als 2014 der Krieg mit Russland ausbrach. Aber ich war damals in den Krieg eingereist, in eine vernebelte unklare Zone der Gewalt. Ich erinnere mich noch an das sehr schlechte Gewissen, das ich hatte, als Gast in einer Katastrophe zu sein und die Katastrophe nach Belieben wieder verlassen zu dürfen, weil ich woanders lebte.

Der Krieg war bereits da, ein Eindringling, etwas Seltsames, Fremdes und Wahnsinniges, das keine Berechtigung hatte, an diesem Ort und zu dieser Zeit stattzufinden. Damals habe ich die Menschen im Donbass immer wieder gefragt, wie all das beginnen konnte, und immer unterschiedliche Antworten bekommen.

Ich denke, der Anfang dieses Krieges im Donbass gehörte für die Menschen in Kiew nur deswegen zu den am meisten mythologisierten Momenten des Krieges, weil es unvorstellbar blieb, auf welche Weise so ein Ereignis geboren wird. Damals, im Jahr 2014, sagten die Leute in Kiew: »Die Menschen aus dem Donbass, die ukrainischen Putin-Versteher, haben den Krieg in unser Land eingeladen.« Diese angebliche »Einladung« gilt seit einiger Zeit als Erklärung dafür, warum das absolut Unmögliche, der Krieg mit Russland, plötzlich doch möglich geworden ist.

Nachdem ich das Telefonat mit meiner Cousine beendet hatte, lief ich eine Zeit lang in meiner Wohnung hin und her. In meinem Kopf herrschte absolute Leere, ich hatte keine Idee, was jetzt getan werden sollte. Dann klingelte mein Telefon wieder. Ein Anruf folgte auf den nächsten, Freunde meldeten sich mit Fluchtplänen, einige riefen an, um sich zu überzeugen, dass wir noch lebten. Ich wurde schnell müde. Ich redete viel und wiederholte ständig die Worte »der Krieg«. Zwischendurch schaute ich aus dem Fenster und hörte, ob die Explosionen sich näherten. Der Ausblick aus dem Fenster war gewöhnlich, die Stadtgeräusche aber merkwürdig gedämpft, keine Kinderstimmen, keine Stimmen in der Luft.

Später ging ich raus und entdeckte eine absolut neue Umgebung, eine Leere, die hier nie zu sehen war, auch nicht an den gefährlichsten Tagen der Maidan-Proteste.

Irgendwann später hörte ich, dass zwei Kinder unter den Beschüssen in Cherson Oblast starben, im Süden des Landes, und dass insgesamt 57 Menschen heute im Krieg ums Leben gekommen sind. Die Zahlen verwandelten sich in etwas sehr Konkretes, als ob ich selbst bereits jemanden verloren hätte. Ich spürte eine Wut auf die ganze Welt. Ich dachte, man hat es zugelassen, es ist ein Verbrechen gegen alles Menschliche, gegen einen großen gemeinsamen Raum, in dem wir leben und auf eine Zukunft hoffen.

Ich übernachte heute bei meinen Eltern, neben dem Haus habe ich einen Bunker aufgesucht und weiß, wohin wir alle gehen werden, wenn die Beschüsse in der Nacht kommen.

Der Krieg hat begonnen. Es ist nach Mitternacht. Ich werde wohl kaum einschlafen können, und es hat keinen Sinn aufzuzählen, was sich für immer verändert hat.

 

Freitag, 25. Februar

Luftalarm

Ich wache morgens um sieben auf mit den Sirenen, die vor Luftangriffen warnen. Meine Mutter ist überzeugt, dass es Russland nicht wagen wird, die tausend Jahre alte Sophienkathedrale in der Stadt zu beschießen, sie glaubt, dass unser Haus, das in der unmittelbaren Nähe der Kathedrale steht, in Sicherheit ist. Deshalb entscheidet sie, nicht in den Bunker zu gehen. Mein Vater schläft.

Ich denke, wenn ein Unesco-Denkmal die russische Armee tatsächlich von Beschüssen abhalten würde, hätte dieser Krieg erst gar nicht angefangen. In meinem Kopf pulsieren die Gedanken: Kiew unter Beschuss, verlassen von der ganzen Welt, die gerade bereit ist, die Ukraine aufzuopfern in der Hoffnung, dass es den Aggressor für einige Zeit füttern und satt machen würde. Sonst würde das alles nicht passieren können.

Kiew wird beschossen, zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ich kämpfe mit mir selbst. Ich weiß, langsam wacht die Welt auf und beginnt zu sehen, dass es doch nicht nur um Kiew und die Ukraine geht. Es geht um jedes Haus, jede Tür, es geht um jedes Leben in Europa, das ab heute bedroht ist.

 

Freitag, 25. Februar, nachts

Gespannte Stille

Die Nacht ist plötzlich still geworden. Noch vor einer Stunde, gegen Mitternacht, konnte man Sirenen hören, dann weit entferntes Donnern, vielleicht Einschläge von Raketen oder Artillerie. Und jetzt – eine gespannte Geräuschlosigkeit.

Wir sollten längst in dem Schutzbunker sein, aber ich war da bereits zweimal heute, meine Eltern sind müde, und ich bleibe mit ihnen in der Wohnung für diese Nacht. Die Idee war, dass man sich hier oben, wenn auch nur ein wenig, erholen kann. Jede Minute sind wir bereit, die Wohnung zu verlassen und im Keller des Hauses Schutz zu suchen.

Mir fällt es schwer, meine Gedanken zu sammeln. Unterschiedliche Erlebnisse des Tages zerfallen in die Illusion von mehr oder weniger gleichen Tagen, die grau einer neben dem anderen stehen. Der Raum in der Stadt verändert sich. Der Weg aus meinem Haus in das nächste Lebensmittelgeschäft, der normalerweise nicht mehr als zehn Minuten dauert, dehnt sich aus, die Strecke wird zu einer längeren Wanderung.

Dass der Laden überhaupt geöffnet hatte, war ein Wunder. Ich kaufte Äpfel, Gemüse und Buchweizen, und als ich eine Stunde später wieder in der Nähe war, sah ich die enttäuschten Gesichter von zwei Frauen, die nun vor verschlossener Tür standen. Jemand meinte, es gebe noch ein Lebensmittelgeschäft 500 Meter entfernt, dieselbe Straße entlang. Aber es war keine gute Nachricht für die beiden Frauen – 500 Meter zu Fuß? Die Sirenen heulen, und auf den Straßen sieht man immer weniger Menschen.

Auch die Zeit verändert sich. Auf dem Rückweg aus dem Lebensmittelladen erfuhr ich, dass heute ein Kindergarten in der Nähe der Stadt Sumy beschossen wurde, im Nordosten des Landes. Ein Kindergarten und ein Schutzbunker. 17 Kinder verletzt, zwei davon schwer. Ich blieb stehen und lehnte mich an eine Hauswand. Der Tag wurde plötzlich unendlich lang. Lässt sich dieser Krieg noch eine Minute länger ertragen? Warum setzt die Welt diesem Geschehen nicht ein Ende?

Es war ein Frühlingstag, die Sonnenflecken spielten auf den Wänden der Häuser und den weißen Mauern der Sophienkathedrale. Wieder heulten die Sirenen – das Signal, Schutzbunker aufzusuchen. Ein guter Freund von mir, der Künstler Nikita Kadan, hatte seine Bankkarte verloren, und wir liefen zu zweit durch die Straßen, um einen funktionierenden Geldautomaten zu finden.

Ein Journalist hatte einen Rucksack dabei, mit allem, was er in den kommenden Tagen brauchen könnte. Wir sahen einige Passanten und Reporter, die vor einem der großen Hotels mit ihren Kameras standen und berichteten. Der zweite Tag des Krieges ist, wie es sich erweist, ein bereits gemachter Schritt in einem sich wiederholenden Ablauf.

Am Abend erfuhr ich, dass eine Stadt im Bezirk Luhansk von der russischen Armee zu 80 Prozent zerstört wurde, eine wunderschöne kleine Stadt, die auf von der Ukraine kontrolliertem Gebiet lag. Sie heißt Schchastje, »Glück«. Der Mann einer Freundin, die bereits in Sicherheit war, konnte fliehen. Er verließ die Stadt ohne Zahnbürste, Socken und Koffer.

Auf der Straße nahm ihn ein Auto mit. Er erzählte meiner Freundin, dass er beim Vorbeifahren die Leichen von Menschen sah, die neben ihren Häusern, Eingängen und den kleinen Kellern lagen, wo viele Ukrainer für den Winter Kartoffeln aufbewahren. Das waren also »die Menschen vom Donbass«, von denen Putin behauptete, er wolle sie vor einem »Genozid« retten.

Glück existiert nicht mehr. Ich war vor einigen Jahren dort und habe Straßen fotografiert, habe auch einen Hügel bewundert, der die Landschaft prägt. In der Stadt sprachen die Menschen Russisch und Ukrainisch, ich habe über sie geschrieben. Immer wieder rufe ich in Gedanken die Bilder der Stadt auf und genieße sie, besonders die seltsamen und witzigen selbst gebauten Spielplätze. Dann bin ich in dieser schwarzen Nacht doch noch eingeschlafen.

 

Samstag, 26. Februar

Meine erste Nacht im Schutzbunker. Die Telegram-Kanäle der Kiewer Regierung warnen, dass es eine schwere Nacht werden und das russische Militär die Stadt angreifen wird. Hier im Bunker ist es aber einigermaßen leer. Viele versuchen, zu Hause zu bleiben, und hoffen, dass nichts passiert. Ab Samstagabend gilt in der Stadt eine fast 30-stündige Sperrstunde. Wahrscheinlich wird es nicht möglich sein, den Raum am Sonntag zu verlassen.
 
Unser kleiner Bunker liegt im Zentrum von Kiew, nicht weit vom Goldenen Tor. Er liegt anderthalb Etagen tief unter der Erde, genau genommen ist es ein Netz von Korridoren und Gängen. Sie sind sauber, angenehm und warm. Ich mag diesen Ort, weil er Zuflucht für mehr als 100 Menschen bietet. Es gibt Trinkwasser, jeder bringt etwas mit, es gibt auch genug zu essen. Jeder, der die Sirenen und das Donnern der Artillerie und die Raketeneinschläge nicht ertragen kann, darf hierherkommen. Es gibt auch einige Familien, die die meiste Zeit hier sind.

Am dunklen Eingang unseres Kellers sehe ich die Silhouetten von Anwohnern aneinander vorbeihuschen. Man kann dort immer wieder kleine Auseinandersetzungen beobachten.

Zwei ältere Schatten gehen an zwei jüngeren vorüber:

»Guten Abend!«
»Der Abend ist aber nicht gut!«, protestieren die Jüngeren.
»Wir wünschen Ihnen trotzdem einen guten Abend«, sagen die Älteren in triumphierendem Ton, »weil wir es gut meinen. Und wir werden es weiter wünschen, Ihnen und den anderen!«
Die Schatten verschwinden in der Tiefe des Kellers.

Jeden Tag sehe ich, wie mein Vater weiter an seinen Übersetzungen arbeitet

Ich orientiere mich im Jetzt, weil ich bemerke, dass die Tage wenig Struktur bieten. Irgendwann habe ich meine Eltern besucht, beide sind nicht bereit, Kiew zu verlassen. Sie wollen hier bis zum Augenblick »unseres Sieges« bleiben, wie sie sagen.

Mein Vater ist Übersetzer, er überträgt deutsche Lyrik ins Russische. Dank seiner Übersetzungen von Paul Celan begann ich, diesen Dichter zu lieben, als ich noch Schülerin war. Schon seit Jahren, seit der Maidan-Revolution, publiziert er seine Übersetzungen fast nur in der Ukraine.

Er hat damals an Protesten teilgenommen, ich erinnere mich, wie ich ihn aus Berlin angerufen habe und erfuhr, dass er in der protestierenden Menge am Parlamentsgebäude stand. Dann hörte ich eine Explosion, zum Glück wurde er nicht verletzt. Jetzt ist er in Kiew. Er fühlt sich nach einer langen Erkältung ziemlich schwach und kann nicht in den Schutzbunker gehen. Vielleicht will er auch nicht. Jeden Tag sehe ich, wie er weiter an seinen Übersetzungen arbeitet. Trotz der Gefahr, trotz der Raketenangriffe, oder vielleicht auch genau deswegen.

Während ich schreibe, fällt mir ein, dass ich tagsüber viele lachende Menschen gesehen habe. Zum Beispiel die Frau, die im Park auf einer Bank neben zwei großen Einkaufstüten saß. Sie sprach zu mir mit absurd glücklicher Stimme und sagte, dass sie auf ihren Neffen warte, der ihr helfen sollte, die Tüten nach Hause zu tragen. »Ich freue mich so, dass sie jetzt neben mir stehen und mit mir reden. Wenn wir zu zweit sind, habe ich weniger Angst vor der Artillerie.«

Früher habe Sie als Museumsführerin in der Sophienkathedrale gearbeitet, jetzt sei sie Rentnerin. Sie sei überzeugt davon, erzählte sie, dass die Ukraine die russischen Invasoren besiegen wird. »Wenn ich an die Fresken von Sophia denke, dann glaube ich, dass die Ukraine von der ganzen Welt beschützt wird.« Sie lächelte, Tränen standen in ihren Augen. »Wir werden siegen«, sagte sie. Ich wusste nicht, ob sie mehr weinte oder mehr lachte, aber ich spürte ihren Mut und bewunderte sie.

Ist heute erst der dritte Tag des Krieges? Mariupol: 58 Zivilisten verwundet. Kiew: 35 Menschen, darunter 2 Kinder. Das ist bei Weitem keine vollständige Liste. Ich finde es seltsam, mich selbst in dieser breiten, unbewaffneten, beinahe zarten Kategorie zu entdecken – »Zivilbevölkerung«. Für den Krieg wird eine Kategorie von Menschen geschaffen, die »außerhalb des Spiels« leben. Sie werden beschossen, müssen die Beschüsse ertragen, werden verletzt, scheinen aber keine angemessene Antwort darauf geben zu können.

Ich glaube nicht an diese Antwortlosigkeit. Etwas versteckt sich doch im Lächeln, das ich heute mehrmals sah. Eine heimliche Waffe, eine unheimliche. Ich muss versuchen, endlich zu schlafen und morgen früh meine Wohnung zu erreichen. In der eigenen Küche zu frühstücken – das wäre ein enormer Genuss!

 

Sonntag, 27. Februar

Eine erloschene Stadt

Normalerweise wärmen die vielen hell erleuchteten Fenster in Kiew die kalten Februartage in der Stadt. Die Lichter haben etwas Geheimes, Privates, zugleich aber Behagliches. Jetzt aber ist die Stadt erloschen. Die Menschen fürchten sich vor den russischen Raketen und vor Artilleriebeschuss. Meine Fenster habe ich mit Klebeband zugeklebt, damit sie bei Beschuss nicht zersplittern. Ich gehe auf den Balkon und schaue, ob meine Wohnung dunkel genug ist. In jedem Zimmer habe ich nur eine Lampe aufgestellt, die Lampen geben kaum Licht und stehen auf dem Boden. Es fällt mir schwer, mich in der Wohnung zurechtzufinden, doch ich versuche, eine neue Form der Gemütlichkeit zu entdecken.

Die Sirenen, die vor Luftangriffen warnen, heulen mit einem langen Signal, das ein wenig an jene Geräusche erinnert, mit denen Elefanten spielerisch miteinander kommunizieren. In Kiew ist das Sirenengeheul auch eine Art der Kommunikation, aber die Botschaft ist immer dieselbe: Verstecken Sie sich, verstecken Sie sich gut!

Als die Dämmerung kam, entschied ich mich aus irgendeinem Grund, meine Wohnung zu putzen. Ich dachte: Gerade jetzt musst du dich an die Pläne halten, an die gewohnten Abläufe. Von außen ist meine Wohnung fast schwarz, mit ihren leeren, dunklen Fenstern grüßt sie all die anderen Wohnungen der Stadt, die ebenfalls leer und dunkel sind.

Die Dunkelheit macht Angst, aber ich spüre zugleich, dass sich die Stadt entschlossen hat, sich zu verteidigen. Auf offiziellen Telegram-Kanälen lese ich von sogenannten Diversionsgruppen, russischen Einheiten, die sich als Vorhut in Kiew bewegen. Wie Terroristen. Ihr Ziel ist es, die Stadt zu destabilisieren, Anschläge auf Politiker zu verüben und letztlich Kiew einzunehmen. Eine solche Gruppe hat heute am Morgen wohl das Auto von zwei Frauen beschossen, die entschieden hatten, mit ihren Kindern Kiew zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Frauen und ihre Kinder starben.

Meine Gedanken werden so dunkel wie die Fenster meiner Wohnung. Beim Putzen dachte ich, dass ich, wenn ich das Tagebuch schreibe, einen Scherz über die Haushaltsempfehlungen im Krieg machen sollte. Mein Tipp wäre: »In einem dunklen Zimmer mit verklebten Fenstern muss unbedingt für Sauberkeit gesorgt werden – wenn Sie es früher machen wollten und jetzt fast weinen, machen Sie trotzdem weiter und wischen Sie ihre Wohnung. Sie sehen zwar nichts. Und die Wohnung wird vielleicht auch nicht viel sauberer, aber Abläufe einzuhalten und Pläne umzusetzen ist wichtiger.«

Der vierte Tag des Krieges ist zu Ende. Die halbe Stadt kämpft gegen die Normalisierung der Gewalt, die an alle Türen klopft. Der Krieg prüft uns auch, ob wir einen Hauch des Mitleids für die in uns tragen, die hierher geschickt wurden, um zu morden. Seit Kriegsbeginn wurden im ganzen Land 16 Kinder getötet. In meiner Stadt kamen bis jetzt neun »Zivilisten« ums Leben (ich hasse dieses Wort immer mehr), 47 wurden verletzt, darunter drei Kinder.

Die Vernichtung der kleinen Stadt Schchastje, »Glück«, im Nordosten der Ukraine begann damit, dass eine Elektrostation beschossen wurde. Irgendwann wurde sie zerstört, das Licht fiel aus, das Wasser, die Heizung. In der Not gingen die Menschen, vor allem ältere Bewohner, vor die Tür, um Wasser oder Lebensmittel zu holen. Dann griffen die Soldaten an, mit Artillerie und Raketen. Ein Bus mit fliehenden Menschen wurde beschossen. In dieser Gegend arbeiten derzeit keine Journalisten, niemand zählt die Verletzten, die Getöteten. Wer wird beschreiben, was Putin dem Donbass seit dem Beginn des Krieges angetan hat, seit seiner Operation »Schutz der Menschen im Donbass vor ukrainischen Faschisten«?

Durch die Besetzung dieser Gebiete und den Informationskrieg hat Putin es geschafft, diese Region von der Welt zu isolieren. Die besetzten Gebiete wurden seit 2014 nicht mehr von Menschenrechtsorganisationen beobachtet, und jetzt zeigt die russische Armee wieder, welchen Wert das Leben dieser Menschen für Russland hat.

Aus den Nachrichten erfahre ich, dass in der Siedlung Iwankiw in Kiew Oblast das Historische und Ortskundliche Museum zerstört wurde. Darin befanden sich die Arbeiten von Maria Primachenko, einer der bekanntesten Künstlerinnen in der Ukraine des 20. Jahrhunderts. Für den Herbst war eine gemeinsame Ausstellung geplant gewesen, was eine große Ehre für mich ist. Ich bin mir sicher, dass diese Ausstellung irgendwie, irgendwo stattfinden wird.

 

27.02.2022, veröffentlicht in Spiegel