Zukunft ohne Vergangenheit

This text was published in the catalogue "Projects of ruins"  in conjunction with the exhibition of Nikita Kadan (June-October 2019, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien)
 

Kann die Zukunft anbrechen, wenn es die Vergangenheit gar nicht gegeben hat?

Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert. Die eigentliche Wiederholung zwingt den Menschen, das, was kommt, in der Erinnerung vorwegzunehmen. Darum macht die Wiederholung, wo sie möglich ist, den Menschen glücklich, während ihn die Erinnerung unglücklich macht [...].

Søren Kierkegaard, Die Wiederholung

 

„Die Wiederholung ist ein unzerreißbares Gewand, das fest und weich anschließt, nicht drückt und nicht wie ein Sack herunterhängt“, schreibt Kierkegaard in einer seiner zentralen Arbeiten und greift damit der folgenden Definition der Wiederholung als einmaliges Schlüsselerlebnis vor. Wiederholung ist bei Kierkegaard eine Erinnerung, die nach vorn, in die Zukunft, gerichtet ist, ein wirksames Verfahren, um Geschichte zu rekonstruieren.

Wiederholung bricht die lineare historische Narration auf und verlagert ein Ereignis ins Mythologische. Ein wiederholtes Ereignis kann demnach gleichzeitig in zwei Ebenen existieren – in der Realität und im Transzendenten, in dem es keine Sieger und Besiegten mehr gibt, sondern nur noch das Ritual, das einer endgültigen, letzten, idealen Wiederholung zustrebt.

Die Vernichtung historischer Dokumente, Zeitzeugnisse und Denkmäler und die Versuche, die Geschichte umzuschreiben, statt sie neu zu analysieren, sind charakteristisch für die ukrainische Erinnerungspolitik der letzten Jahre. Etliche ukrainische Künstler_innen befassen sich in ihren Arbeiten weniger mit der Reflexion der Erinnerungspolitik selbst als mit der kollektiven Erfahrung des Erlebens. Diese Auseinandersetzung ist auch für Nikita Kadan in den letzten Jahren zu einem Schlüsselthema in seinen Arbeiten geworden.

Im April 2015 traten in der Ukraine mehrere Gesetze in Kraft, um die Folgen der kommunistischen Herrschaft in der Ukraine zu beseitigen (Entkommunisierungsgesetze); verabschiedet wurden sie zur Legitimierung des Prozesses, der 2013 und 2014 begann und in den Medien unter der Bezeichnung „Leninopad“ (Sturz der Lenin-Denkmäler) firmiert.

Die nach 1990 erhalten gebliebenen Denkmäler für Lenin und andere Revolutionäre waren Symbole einer – so schien es – endgültig untergegangenen Epoche und wurden in all den Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit praktisch nicht wahrgenommen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden sie bis 2013 völlig ignoriert, ehe am 8. Dezember 2013 während des sonntäglichen Volksrats auf dem Maidan, genannt Wetsche, das erste Denkmal dieser Art in Kiew gestürzt wurde. Die rechtsradikale Partei Swoboda bekannte sich später zu dieser Aktion.

Der 8. Dezember 2013 stellte eine Zäsur in den Maidan-Protesten dar. Die Versammlung erreichte eine Rekordbeteiligung, es war die dritte und bis dahin größte Protestkundgebung im Zentrum von Kiew. Viele Quellen sprechen von über einer Million Demonstrant_innen. Die Teilnehmer_innen des Wetsche fordertendie Bestrafung der Verantwortlichen für das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstrant_innen und die Anordnung außerplanmäßiger Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Zwarbrachte dieser Tag den Durchbruch in den revolutionären Protesten, aber von den hochgesteckten Zielen, Ideen, kollektivenWünschen und Forderungen ist praktisch nichts geblieben bis auf eine einzige Handlung, die sowohl auf die Zukunft als auch auf die Vergangenheit einen Schatten wirft.

Während die Protestierenden an diesem kalten Abend die Verkündung von Forderungen beendeten und nunmehr die Planung unverzüglicher Handlungen, so unter anderem der Besetzung der Präsidialverwaltung, in Angriff nahmen, machten sich maskierte Unbekannte daran, das Lenin-Denkmal abzureißen, das sich unweit des Kundgebungsorts befand. In Windeseile hatte sich unter den Demonstrant_innen die Kunde von der Zerstörung des Denkmals verbreitet, und eine riesige Menschenmenge wälzte sich auf die Straße zu, in der das Denkmal stand. Der kollektive Abriss des Denkmals gab dem Protest eine neue Wendung, wurde zum Kulminationspunkt und zum Ergebnis des Aufbegehrens. Der Tod des Denkmals hatte den „Tod“ der korrupten Präsidialverwaltung ersetzt.

Zum ersten Mal während des gesamten Maidan verdrängte eine ungeplante und symbolische Geste die Ziele und das Programm des Protests, als wollte sie dessen Sinn und Idee erobern. Auf die Zerstörung des Denkmals aus teurem rotem Granit folgten der Verkauf der Trümmer und der Diebstahl des großen Restfragments. So begann ein enthemmter Prozess: die bis heute in der Ukraine andauernde Zerstörung von Denkmälern aus der kommunistischen Zeit. Einige spontane oder staatlich sanktionierte Demontagen wurden von einem rituellen Triumph begleitet, das Schicksal vieler Denkmäler war hart umkämpft, als hinge von ihrer (Nicht-)Existenz tatsächlich die politische Zukunft des Landes ab.

Denn es ist nur das Neue, dessen man überdrüssig wird, nie das Alte. Und wenn man dies vor sich hat, wird man glücklich.
Søren Kierkegaard, Die Wiederholung

Der Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit, der mit der Zerstörung der Denkmäler aus der sowjetischen Zeit vollzogen wird, wiederholt die Ereignisse der 1990er-Jahre, als nach der Erklärung der ukrainischen Unabhängigkeit viele Denkmäler aus der sowjetischen Zeit demontiert wurden. In den 1990er-Jahren gingen der Abriss von Denkmälern und die Umbenennung von Plätzen mit der Veröffentlichung investigativer Werke, der Herausgabe neuer Geschichtslehrbücher und der Veranstaltung von Diskussionen einher, all das schien damals einen Schlussstrich unter die Sowjetunion als staatliches Gebilde und als politische Idee zu ziehen.

Die gegenwärtige Zerstörung der Denkmäler vollzieht sich scheinbar zum ersten Mal, als wäre dem nichts vorausgegangen. Sie entsteht als sich wiederholende Geste, die ihren Zwilling oder Vorläufer vergessen zu haben scheint. Die Schläge gegenden Stein hallen in einer historischen Leere oder, besser gesagt, in einem künstlich geschaffenen historischen Vakuum, in dem die Geschichte neu ausgehandelt wird, als wären alle früheren Versuche, Denkmäler zu demontieren und die Verbindungen zur Sowjetunion zu kappen, nicht nur fehlgeschlagen, sondern nicht einmal einer Erwähnung wert.

Kann man, von der heutigen Warte aus betrachtet, die Züge einer Epoche erkennen, gegen die immer noch gekämpft wird? Es ist so, als wüchse das Sowjetische weiterhin verbissen aus den eigenen Ruinen hervor, wobei es sich regeneriert und ständig neue Gesten der Zerstörung fordert. Die Wiederholung verweist auf den zyklischen Charakter der Zukunft und verleiht der Gegenwart eine Aura des Mythologischen. Wenn es die Vergangenheit wirklich nicht gegeben hat, braucht jedes Ereignis eine Wiederholung, wie auch jedes Trauma und jeder Schmerz erneuert werden muss, um die Sicherheit zu schaffen, dass alles sich tatsächlich so zugetragen hat.

Nikita Kadans Project of Ruins verbindet die Logik sich anhäufender Ruinen; indem sie sich spiegeln und sich wiederholen, erzählen sie von ihrer eigenen Sprachlosigkeit, von den verlorenen Bedeutungen, die sich nicht wiederherstellen lassen. Zugleich erzählen sie von der sich wiederholenden kollektiven und individuellen Geste des Widerstandes, die scheinbar augenblicklich in Vergessenheit gerät, wie in der Arbeit Tiger’s Leap (2018), oder aber in ein autoritäres Dogma verwandelt und dann vergessen wird, wie in den nachgebauten Sockeln von Iwan Kawaleridse oder in den Projekten von Wassili Jermilow.

Die Ruine, die ein demontiertes Denkmal hinterlässt, zeigt sich gewöhnlich in Form eines leeren Sockels. Die Leere ist vieldeutig: Scheinbar großzügig lädt sie eine neue ideologische Konstruktion ein, den Platz des Überkommenen, Verworfenen einzunehmen; gleichzeitig verweist der leere Sockel eindrucksvoll auf die Aktualität der Vergangenheit, auf ihre Vitalität und mögliche Gefahr für die Gegenwart, darauf, dass das Tote vielleicht doch noch lebendig ist. Und auch darauf, dass das, was wir für „vergangen“ und begraben gehalten haben, in Wirklichkeit die Gegenwart ist, die wir gerade erleben.

Die sichtbare, fühlbare Ruine entsteht da, wo eine Trennung von der Geschichte erfolgt, wo sich eine kollektive Abkehr von der Vergangenheit vollzieht. Gerade diese gekappte Verbindung ist der beste und deutlichste Beweis für die Macht der Vergangenheit und ihren Anspruch auf die Gegenwart.

Von der soeben geschaffenen Ruine geht eine Gefahr aus, die Vergangenheit (egal, wie die Zerstörer sie sehen) ist sozusagen im Begriff, aus dem Reich der Toten aufzuerstehen, was nur einen einzigen politischen Wunsch hervorbringt, nämlich weitere Ruinen zu schaffen und die Umschreibung, Umbewertung und Umbenennung fortzusetzen.

Dem Abriss der Lenin-Denkmäler, der 2013 begann, folgte die Zerstörung der verschiedensten Artefakte der sowjetischen Kultur, die im öffentlichen Raum der Ukraine präsent waren. Nachdem die Entkommunisierungsgesetze in Kraft getreten waren, wurden zahlreiche Städte und Straßen umbenannt.

Die Ausstellung Project of Ruins entsteht in einem Moment, indem sich die Ruine ausbreitet, die Geschichte ein Schlachtfeld und gleichzeitig ein mythologischer und sakraler Bereich des Märchens ist, ein Ort, an dem Rituale entstehen und verschwinden.

 

Die drei nachgebauten Sockel von Iwan Kawaleridse

Ich habe lange nach einem Foto des Beschusses von Iwan Kawaleridses Artjom-Denkmal mit Platzpatronen gesucht, eines Ereignisses, das sich entweder 2014 nach der Befreiung von Swjatohirsk von den russischen separatistischen Kampfeinheiten oder 2015 abgespielt haben muss. Vielleicht hat dieser symbolische Kampf gegen die monumentale Skulptur sogar mehrmals stattgefunden, wie eine Probe.

Der abendliche Beschuss des Denkmals wird im Übrigen nur in mündlichen Berichten von Bewohner_innen aus Swjatohirsk bezeugt, die sich allerdings so stark unterscheiden, dass nicht auszuschließen ist, dass sich dieses Ereignis als eines der informellen Entkommunisierungsrituale, wie sie in der Ukraine zwischen 2014 und 2016 häufig stattgefunden haben, an einem anderen Denkmal in einer anderen Stadt zugetragen hat.

Hätte dieser Beschuss tatsächlich stattgefunden, wäre er eine symbolische Geste des Hasses beziehungsweise eine kindliche Geste der totalen Ablehnung. Wobei sich der Hass weniger gegen die Vergangenheit und die Geschichte als vielmehr gegen die Gegenwart und die potenzielle Zukunft richtet. Russlands Aggression, die militärische Intervention, der Hybridkrieg und der Widerstand gegen diesen Krieg haben das sowjetische Projekt wieder neu sichtbar gemacht. Allerdings hat es nun eine andere Gestalt und wird nicht als eigene, sondern als entfremdete Geschichte, als Geschichte der Kolonisierung neu vergegenwärtigt.

Die monumentale Artjom-Skulptur von Iwan Kawaleridse in Swjatohirsk, die ihre Bedeutung als Kultobjekt verloren hat, keine neue Reflexion beansprucht und deshalb stumm bleibt, galt wie fast alle sowjetischen Denkmäler während der langen Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit einfach als Ruine einer vergangenen Epoche, als ungefährliches Zeugnis. Sie war ein Wahrzeichen, ein Bauwerk, das man gesehen haben sollte, um die Gegend besser kennenzulernen.

Das Artjom-Denkmal ist ein überdimensionales Objekt, eine Sehenswürdigkeit, deren Wert in der ungeheuren Größe (darauf verweisen moderne Reiseführer heute zuallererst), im exotischen kubofuturistischen Stil („das europaweit größte kubistische Denkmal“) und im Material („das europaweit größte Betondenkmal“) besteht. Wie etliche andere war das Monument über viele Jahre hinweg ein urbaner Fetisch, eine Illustration der Lehren aus der Geschichte, dessen, was man hinter sich gelassen hatte.

Der Prozess der Entkommunisierung, der spontan entstanden ist und einem geschickten populistischen Manöver gleicht, sollte weniger als Prozess der kollektiven und destruktiven Erinnerung an die Existenz verschiedener sowjetischer Zukunftsprojekte verstanden werden, sondern vielmehr als komplizierter medizinischer Vorgang der wiederholten Tötung, der eine – wenn auch kurze, so doch spürbare – künstliche Wiederbelebung bedingt.

Damit diese spontane Entkommunisierung mit Szenen wie dem Beschuss eines Denkmals mit Platzpatronen vorstellbar wird, muss man sich vergegenwärtigen, dass die verworfene Vergangenheit keine unbewegliche Ruine mehr ist, sondern dass sie sich verborgen und unbemerkt einen Weg in die Zukunft bahnt.

Das Denkmal für den Revolutionär und Parteifunktionär Fjodor Sergejew, das mit dessen Pseudonym Artjom betitelt ist, ersetzte eine kleine Kapelle, die letzte funktionierende Kirche aus dem Ensemble des Klosters Swjatohirsk, des größten Klosters in der Gegend. Das Artjom-Denkmal wurde 1927 eingeweiht, da war
das Kloster bereits seit einigen Jahren aufgehoben und in ein Arbeitererholungsheim umgewandelt worden. In einer ehemaligen Klosterkirche war eine Bibliothek eingerichtet worden, in einer anderen ein Kino. Einige Kirchen wurden abgerissen. Die „Heiligen Berge“, auf denen das Klosterensemble gestanden hatte, wurden in „Rote Berge“ umbenannt.

Als das Denkmal errichtet wurde, waren die Klostergebäude zum Teil schon verfallen, zum Teil hatten sie noch ihre frühere Form, doch ihr Inhalt war ein anderer. Die monumentale Skulptur betonte die neue Höhe, den neuen Blick auf die Hügel der Stadt und auf die Linie der Erhebungen (der Revolutionär war höher als die Kreuze und Kuppeln der Kirchen). Als Fundament für das Artjom-Denkmal waren Reste einer abgerissenen Kirche aus dem Klosterensemble verwendet worden.

Die kubofuturistische Form betont nicht nur das Heldenhafte in der menschlichen Gestalt und repräsentiert das leninsche Dekret über die Monumentalpropaganda (1918), sondern verkörpert auch etwas Antiindividuelles, ein politisches Programm der Umgestaltungen und Veränderungen, das der Abstraktion zustrebt. Die monumentale Skulptur betont vor den Ruinen der Vergangenheit einen neuen Daseinsplan, ihre vielen plastischen Deformierungen, die geometrischen Vereinfachungen, Winkel und geraden Linien verweisen jedoch auf die Distanz dieser Neuheit zur der Realität, zum realistischen Blick sowie auf die Dissonanz und Vielgestaltigkeit der Gegenwart.

In seinem programmatischen Text Vom Kubismus zum Suprematismus schreibt Kasimir Malewitsch 1916: „Kubismus und Futurismus haben das Bild aus Bruchstücken und Splittern der Gegenstände geschaffen – im Namen der Dissonanz und der Bewegung. [...] Was die malerische Fläche im Kubismus betrifft, war sie nicht Selbstzweck, sondern diente mit ihrer malerischen Form der Dissonanz. [...] Das intuitive Gefühl hat eine neue Schönheit in den Dingen entdeckt – die Energie der Dissonanz, die aus der Begegnung von zwei Formen entsteht.“

Das 30 Meter hohe Artjom-Denkmal in Bachmut wurde aus Stahlbeton gegossen, 1924 eingeweiht und 1943 während der deutschen Besatzung abgerissen. Bemerkenswert ist hier der konstruktivistische Sockel, der zugleich Tribüne war und Dutzenden Menschen Platz bot. Die konstruktivistische, sich nach oben verjüngende Sockelform verweist auf den Tatlin-Turm, sein Monument für die Dritte Kommunistische Internationale, in dem sich die Absurdität der Konstruktion, ihr optischer Bezug zum Turm von Babel mit monumentalem Pathos verbindet. Unter dem Druck der dissonanten Formen wird die Idee der Macht, der heroischen und hierarchischen Dominanten vieldeutig wie die Zukunft, auf die die Gesten und Bewegungen der beiden Artjom-Figuren gerichtet sind.

In den 1950er-Jahren wurde das Artjom-Denkmal in Bachmut ein zweites Mal zerstört. Der konstruktivistische Sockel, der nach dem Abriss der Figur erhalten geblieben war, müsse, so meinte man, gesprengt werden, da er den ästhetischen Anforderungen an die Kunst der Stalin-Zeit widersprach. In gleicher Weise wurde 1953 im Kampf gegen den Formalismus und Kubismus das Schewtschenko-Denkmal in Romny zerstört, das seiner Form nach dem noch erhaltenen Schewtschenko-Denkmal in Poltawa ähnelte.

Die Werkgeschichten von Iwan Kawaleridses Skulpturen sind in vielfältiger Weise von der Zensur geprägt. Dass die Denkmäler bis heute überdauert haben, dass sie noch existieren, ist reiner Zufall, denn ihre monumentale Form und auch ihre frühsowjetische Romantik sind angesichts der ideologischen Unberechenbarkeit der Figuren und ihrer unerbittlichen Sprengung des Rahmens der erstarrten Ideologie der 1930er-, 1950er- und 1970er-Jahre überaus zerbrechlich und flüchtig. Den Figuren blieb der Erfolg versagt, über einen langen Zeitraum hinweg wurden sie von allen offiziellen – den sowjetischen und den post-sowjetischen – Ritualen ignoriert, die die Aneignung und Übertragung ideologischer Bedeutungen des historischen Siegs der Gegenwart über die Vergangenheit repräsentieren.

Die einsame Figur des in die Zukunft schauenden Revolutionärs und Visionärs wurde im Laufe von Kawaleridses Leben genauso zur Ruine wie die den vieleckigen Flächen entwachsende Büste des Dichters, dessen Blick nach innen gekehrt ist.

Die von Nikita Kadan geschaffene Gegenüberstellung der drei Sockel ist ein Gespräch über das, was überdauert hat. Wenn ein Denkmal abgerissen wird, der Sockel aber erhalten bleibt, bedeutet das, dass ein Rest Vergangenheit sich in die Gegenwart gerettet oder sogar einen Platz gefunden hat, wenngleich in abgewandelter, nicht mehr authentischer Form. Der Sockel verkörpert einen widersprüchlichen, paradoxen Sinn, er zeugt von der Zerstörung der Vergangenheit, von Abrechnung, Zurückweisung und zugleich von ihrer Bewahrung, der Möglichkeit, die Vergangenheit für neue Ziele nutzbar zu machen.

Gleichzeitig zeigt Nikita Kadans Arbeit die Verletzlichkeit, die durchschimmernde Patinierung der drei Skulpturen, deren Sockel er nachgebaut hat. Allen drei Figuren ist gemein, dass ihr revolutionärer Gehalt obsolet geworden ist. Taras Schewtschenko ist die Schlüsselfigur im dogmatischen ukrainischen Literaturkanon, der dem sowjetischen Muster folgt. Artjom ist ein in Vergessenheit geratener Verbrecher, dessen Denkmal nur deshalb erhalten bleibt, weil es zu einer wichtigen Sehenswürdigkeit geworden ist und weil sein Abriss technische Schwierigkeiten verursachen würde.

Das Kloster Swjatohirsk ist heute keine Bibliothek, kein Erholungsheim und auch kein Kino mehr. Es wurde im Jahr 1992 neu gegründet und floriert, neue Gebäude sind dazugekommen, 2003 wurde es in den Status einer Lawra erhoben. Im Jahr 2014 nahm das Kloster eintausend Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet im Donbass auf.

Nach langen Diskussionen darüber, ob Kawaleridses Artjom-Denkmal, das auf einem Kreidefelsen neben dem Kloster steht, abgerissen werden soll, kam man zu dem Entschluss, es zu restaurieren. Die Restaurierungsarbeiten begannen 2018 und dauern bis heute an.

 

Victory (White Shelf)

Kadans Arbeit Victory (White Shelf) rekonstruiert das Modell der Skulpturenkomposition des Denkmals für Die drei russischen Revolutionen: 1825, 1905 und 1917 von Wassili Jermilow. Das Modell wurde von dem Charkiwer Künstler, Designer und Bildhauer Jermilow in den Jahren 1924 und 1925 geschaffen, aber nie als Skulpturengruppe in der geplanten Größe realisiert. Bei Jermilow werden mehrere miteinander verbundene Flächen zum Sinnbild für die Geschichte, zu ihrem Code. In Jermilows höchst lakonischer Konstruktion symbolisiert jede Fläche ein bestimmtes historisches Ereignis.

Der rote Hammer mit dem gelben Stiel ist die einzige erkennbare Fläche, die auf ein Symbol des Proletariats und die Flagge der UdSSR rekurriert, die bei der Entstehung der Skulptur ihren sechsten Geburtstag feierte. Laut der Theorie vom historischen Fortschritt löst das Neue das Alte erst nach einem qualitativen Sprung ab, der den Rahmen des Gewesenen sprengt und das Neue für immer vom Alten scheidet. 

Die epochalen historischen Ereignisse präsentieren sich uns in Jermilows Skulptur als drei gleichartige ineinanderfließende Zeichen, deren hauptsächliche Bedeutung darin liegt, dass sie ausgewählt und in eine Reihe gesetzt wurden, wobei die Reihe weder Anfang und Ende noch einen kontinuierlichen Fortschritt kennt.

Nikita Kadan schafft diese Figurengruppe in einer einzigen Farbe: in Weiß. Drei Revolutionen werden zu einem „Sieg“ – die Anordnung der historischen Ereignisse in einer bestimmten, bedeutungstragenden Reihenfolge erweist sich als sinnlos. Den absurden Charakter der „rationalen“ Verbindung der Revolutionen zueiner Komposition lakonischer Formen überführt Nikita Kadan in ein semantisches Chaos, in dem jedes Ereignis nur in Form ein und desselben „Sieges“ dargestellt ist.

Außerdem werden die Revolutionen zu einem Podest für einen runden, ganz offensichtlich deformierten Gegenstand, der merkwürdig anmutet und die Harmonie der verbundenen Flächen empfindlich stört.

Dieser Gegenstand ist ein Fragment aus einem zerstörten Haus in Lisitschansk, ein Element der Zeitgeschichte, die sich einer wie auch immer gearteten Kontinuität entzieht. Etwas Unklares, Dunkles, Verklebtes, zu einem Klumpen verdichtetes Irrationales, das aus einem für immer verlorenen persönlichen Raum eines Menschen entnommen ist.

Eine Kriegstrophäe, das Zeugnis einer Katastrophe, ein sprechen der Gegenstand, der auf dem liegt, was zunächst Revolution war und dann Sieg geworden ist – er ist das einzige Objekt, das keine Umschreibungen zu befürchten hat, weil es nichts symbolisiert, sondern einfach es selbst ist, ein Zeugnis, das sich jeder Rationalisierung oder Absurdisierung verweigert.

Das nach einem Sturm der Geschichte am Ufer der Wirklichkeit gestrandete Kunstobjekt, der zufällig erhaltene Entwurf einer Skulptur, das irgendwie den vielen Zensurwellen und Machtwechseln entkommene Denkmal präsentieren sich uns als kodifiziertes Versprechen einer anderen Zukunft, als „Erbe der Avantgarde“, als Bereich einer zerstörten, gewaltsam unterbrochenen Tradition. Die avantgardistischen Vorstellungen vom Wechsel der historischen Formationen fußten auf dem Konzept der rigorosen Abkehr von der Vergangenheit, als wären Gegenwart und Zukunft erst dann möglich, wenn die Vergangenheit vollständig zerstört ist. 

Kadans Ausstellung Project of Ruins erzeugt eine Reihe von in verschiedenen Zeiten und in unterschiedlicher Weise historisch „überwundenen“, gescheiterten, keinen Zugang zur Zukunft erlangenden künstlerischen Arbeiten, Objekten und Spuren eines vom Krieg überrumpelten Lebens, die weiter verschwinden.