Geschichte einer Angst

Geschrieben im Januar 2023

Wurde auf English von Isolarii publiziert: https://www.isolarii.com/kyiv 

 

Kiew, 1983

Das Schweigen dehnt sich aus, saugt die Dunkelheit ein und wird größer. So kommt die Nacht, auch am helllichten Tag.

Ich bin zwischen drei und vier Jahre alt und soll am Tag schlafen. Ich will nicht schlafen, will nicht einschlafen und bin bereit alles zu opfern, zu verhandeln, damit man mich nicht am Tag zum Einschlafen zwingt. Dieses Einschlafen ist beunruhigend, man wacht verändert auf. Ich glaube, auf diese Weise werde ich mich von mir selbst, so wie ich an diesem Tag war, für immer verabschieden sollen. Meine Einsamkeit tut mir weh, jeden Tag beginne ich mich mit den Gegenständen anzufreunden, mit dem großen Sessel in der Küche, der mit seinen gebogenen Beinen als erster in diesem Raum steht und mich begrüßt. Das Licht des Tages ist freundlich, es wirft helle leichte Schatten auf den karamellfarbigen gemusterten Linoleumboden. Die Erwachsenen sind weit entfernt und beschäftigt, aber sie wollen mir das alles wegnehmen. Die neuen Verbindungen lösen sich im Schlaf auf.

In Begleitung meiner Oma Tsylja überquere ich den langen Korridor unserer Zweizimmerwohnung, die riesengroß und unerforschlich erschien.

Es ist ein Wochenende, ein Samstag, ich bin aufgewacht wie ein freier Mensch, der nicht in den Kindergarten gehen muss. Diese Freiheit spüre ich aber kaum, weil mir der Tag als eine einmalige und ewige Erscheinung vorkommt. Der Vormittag wird nie enden und das Gestern existierte kaum. Ich will diese friedliche Ewigkeit nicht unterbrechen und verspreche mir, alles zu tun, um nicht einzuschlafen. Die einzige Möglichkeit ist hier, die Augen zu schließen und so zu tun, als ob man schläft. Meine Oma, so aufmerksam und misstrauisch sie sein mag, wird diesen feinen Unterschied zwischen meinem Schlaf und Wachsein nicht bemerken. Nur auf diese Weise kann ich gewinnen, es gibt keinen anderen Ausweg.

Ich habe im Voraus die Argumentation vorbereitet, sehr lange an den Einwänden gearbeitet und zu unterschiedlichen Erwachsenen gesprochen. Si alle waren gut zu mir, sie alle hörten zu, aber das Urteil war gefallen und konnte nicht einmal ein kleines bisschen verändert werden: ich sollte schlafen, und zwar nicht weniger als eine Stunde.

Allein das Zimmer zu betreten und mich hinzulegen war unerträglich. Meine Oma, ein wenig enttäuscht, dass ich immer noch nicht selbständig bin, begleitete mich ins Schlafzimmer. Sie, ihre zarte diffuse Gestalt, ihre stille nette Stimme, gaben mir Sicherheit, dass mir nichts passieren kann.

Das Schlafzimmer diente auch als ein Arbeitszimmer meines Vaters, und in der Nacht teilte ich es mit meinen beiden Eltern, die schräg gegenüber schliefen, aber viel später als ich schlafen gingen. Wenn ich morgens geweckt wurde, waren beide längst aufgestanden und ihr Bett war schon wieder gemacht.

In dem anderen Zimmer schlief meine Oma, da war ihre Welt, die sich sehr von der unseren unterschied.

Wenn unser Zimmer zum Arbeitszimmer meines Vaters wurde, was nicht so oft der Fall war, weil mein Vater täglich in einem Werk als Bauingenieur arbeitete und erst an den Abenden an seinem Tisch Gedichte übersetzte, verschwand das Bett meiner Eltern aus der Sicht. Ich sehe mit den Augen meiner Erinnerung nur ein Sofa, einen Schreibtisch und zwei alte große Bücherregale, die an der Wand stehen. Unter dem Glas sind matt gefärbte Buchrücken zu sehen, die rätselhaft und unberührbar sind, und mich leise ansprechen. Nie wäre es mir in den Kopf gekommen, die Bücher vor den Augen meiner Oma, die meine Spiele zu Hause beobachtete, aus dem Regal zu ziehen und mit ihnen zu spielen. Ich sah sie eher als eine schützende Ausstellung, deren Ansicht mich beruhigen konnte.

Wenn dasselbe Zimmer zum Schlafzimmer wurde, verschwanden der Tisch und die Bücherregale aus meinem Blick, ich sah aber den dunkelgrünen Teppich, der über dem Bett meiner Eltern an der Wand hing. Dutzende dünne orangene und rötliche Linien führten zueinander in der grünen Wolle und ich konnte, wenn ich mich nur kurz auf dieses Bett hinlegte, mit meinem Blick wieder und wieder durch diese Linien-Pfade laufen.

An jenem hellen Tag führte mich Oma Tsylja an der Hand in das Zimmer, wo in der riesig anmutenden Leere ein zugedecktes Sofa, als zugleich anlockende und bedrohende Zielstation stand.

Meine Entscheidung nicht einzuschlafen stand fest, ich wusste, dass es dieses Mal gelingen konnte. Meine Oma setzte sich auf einen Sessel, der so nahe am Sofa stand, dass ich liegend ihre Kniee mit der Hand berühren könnte. Sie trug, wie immer am Wochenende, ein Kleid und ihre Füße waren unter dem blumigen weichen Stoff auf eine Weise versteckt, dass ich ganz sicher war, der Körper habe die Form des Kleides; das Kleid sei, wie bei den steinernen Figuren, der Körper selbst.

Als ich mich hinlegte und zugedeckt wurde, sollte ich die Augen schließen, das war die Forderung, das wurde von mir verlangt. So war es noch ruhiger und angenehmer, ihre Figur, die Rundungen ihres Körpers, ihre Haut und ihr Kleid durch die schmale Augenöffnung, durch die Wimpern zu beobachten.

Aber ich durfte mich nicht rühren, das wurde langweilig. Ich zählte die Sekunden und überlegte, ob ich vielleicht doch für einige Minuten einschlafen sollte, aber auf einmal wurde ich aus den Gedanken gerissen, erschrak und erstarrte in Angst: Hinter meinen Füßen, wo das Sofa endete, öffnete sich die Erde, und eine riesige Gestalt, von der ich dachte, es sei ein Drache oder ein Teufel, fasste meine Füße an und wollte mich mit sich in den Abgrund ziehen. Seine Augen waren groß, er würde mir keine Gnade schenken.

In Panik versetzt, unfähig aufzuschreien, schaute ich meine Oma an. Aber sie saß neben dem Bett mit dem gleichen ruhigen, friedlichen Gesicht, ihre müden Augen halb geschlossen, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Sie musste sehen, was gerade passierte, aber sie veränderte ihre Haltung nicht. Von ihr würde ich keine Hilfe bekommen. Der Drache lachte spöttisch über meinen Versuch, ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen zu lenken. Noch schrecklicher wurden seine Pfoten-Hände, noch schlimmer und kräftiger zog er mich in seine Richtung.

Ich sammelte alle meine Kräfte, mit einem letzten kraftvollen Stoß leistete ich Widerstand. Im nächsten Augenblick fand ich mich wach im leeren Zimmer. Und die Oma? Der Sessel neben meinem Bett war leer. Nichts schien von diesem schrecklichen Fall zu zeugen.

Noch vor einer Sekunde, als ich auf diese brutale Weise attackiert wurde, war Oma noch hier. In Eile zog ich die Hausschuhe an und lief hinaus aus dem Zimmer in die Küche.

Da waren sie alle versammelt, sie unterhielten sich, ich hörte rauschende Stimmen, die Melodie des üblichen Gesprächs meiner Großeltern, das ich, glaube ich, immer noch erkennen würde und immer noch vermisse.

- Bist du aufgewacht?, - eine Frage, die mir sehr oft nach dem Schlaf gestellt wurde.
- Ich habe doch gar nicht geschlafen. Du warst die ganze Zeit dabei!, - sagte ich zu meiner Oma.
- Du bist sehr schnell eingeschlafen, und als ich es sah, bin ich rausgegangen, ich war hier, mit allen.
- Das kann nicht sein! Es sind doch nur wenige Minuten vergangen. Und so viel ist passiert!, - ich wartete auf eine Erklärung, auf eine Antwort, die allen Ereignissen eine Art der Ordnung verschaffen könnte.

- Zheniechka, du hast mehr als eine Stunde geschlafen. – sagte meine Oma leise und zeigte mit der Hand in die Richtung der runden Uhr, die an der Wand hing und sehr laut tickte.

Ich spürte, wie jede kommende Sekunde die Trennung zwischen dem Traum und dem Wachen bemisst. Der Drache gehörte nicht zur Welt meiner Oma, obwohl sie dabei war und gleichgültig und bewegungslos beobachtete, wie ich mit letzter Kraft kämpfte. Die ruhigen Stimmen um mich herum würden nie verstehen können, was sich währenddessen abgespielt hatte. Ich sollte es für mich behalten. Und schon saß ich unter ihnen, unter den Melodien der Rede wie unter einer Kuppel über meinen Kopf.

Episode 2
Angst vor den Beschüssen

Es ist der 9. Januar 2023. Mein Tag beginnt mit der Nachricht, dass heute die ukrainische Front in der Oblast Donetsk, in der Nähe von Bachmut, in der Stadt Soledar, durchbrochen wurde. Beim Lesen wird mir schwindlig. Ich versuche mich zu beherrschen und schließe die Nachricht, die ich nicht lesen will, schnell wieder. Aus dem Titel ist schon klar, was sich gerade abspielt. Die Stadt Soledar soll teils völlig zerstört, teilweise von russischen Streitkräften besetzt sein. In so einem Fall werden die weiteren Kämpfe direkt in der Stadt stattfinden, in einer Stadt, wo sicher noch ältere Menschen leben, wo Mütter mit den kleinsten Kindern in den Kinderwägen manchmal auf den leeren Straßen zu sehen sind. Kaum ein Journalist wird diese Stadt, in der kein Haus, keine Wohnung Schutz bietet und die so wenige kennen, erreichen.

Einige Kriegsbilder werden von den Kriegsreportern gemacht, die gleichzeitig Soldaten in der ukrainischen Armee sind. Andere Bilder werden Satellitenaufnahmen der Ruinen sein.

Während der letzten Jahre war ich oft im Donbass und sah, wie viele Einwohner sich entschieden, in den eigenen Städten und Dörfern zu bleiben, obwohl die Demarkationslinie, an der mal da, mal dort geschossen wurde, so nahe verlief.

Wenn man von solchen Ereignissen aus der Distanz erfährt, oder sogar wenn man vor Ort ist, existiert innerhalb des Krieges eine Fluchtzone, ein „Erholungsgebiet“. Es ist Kriegsgeografie, die durch die Beschreibungen belebt wird, und Kriegsanalyse, wo nicht die Menschen, sondern die Länder oder sogar Länderverbände eine Rolle spielen. Die Ukraine ist „heroisch“ und sie „kämpft für ihre Freiheit“, „sie stellt sich vor und beschützt das ganze Europa“. Die Experten, denen ich manchmal beim Einschlafen zuhöre, nennen sich oft „Freunde der Ukraine“.

Um die heute zerschossenen Straßen von Soledar für eine Weile zu vergessen, höre ich wieder und wieder zu, wie heldenhaft die Ukraine kämpft. Diese Formulierung entführt mich in eine Realität, wo nicht eine kleine russischsprachige depressive Industriestadt ihre Existenz verliert, sondern ein riesiges Subjekt, in dem ich selbst ein kleines, unscheinbares Partikel bin, handelt und entscheidet, sich von seiner guten Seite dem Anderen (der Welt) zeigt, gepriesen wird und beinahe unsterblich ist.

Die Vorstellungen über die Grenzen werden beweglicher. Die Frontlinie „verläuft“, sie kann etwas „darstellen“, zum Beispiel, einen Halbkreis, eine Kurve, eine Figur, sie wird umkämpft, damit kann sie aber weiterleben.

Die Frontlinie, die außerhalb des Krieges eher ein totes Wort aus Geschichtslehrbücher ist, wird während dieses Krieges zu einer Art Haut, die einen noch stärker überzeugt, dass man selbst zu einem kollektiven Körper gehört. Wenn die Haut durchbrochen wird, fließt aus der Wunde immer Blut. Obwohl die Frontlinie, wenn man eine Minute länger nachdenkt, eigentlich eine ständig blutende Wunde ist, erscheint sie in den Nachrichten, in der eigenen Kriegsmythologie als etwas Ganzes, Schützendes, was sich manchmal bewegt, sogar durchbrochen sein mag, aber nur wenn es die Frontlinie des Gegners ist.

***
Jetzt, da der neue Ausbruch des Krieges schon 11 Monate dauert, kann ich mich nicht mehr erinnern, wann ich die Schüsse, Artillerie und Raketen in diesem Jahr zuerst gehört habe. Wahrscheinlich war es der erste Tag des Krieges, der 24.2.2022.

An diesem Tag, wie auch in den nachfolgenden Wochen wurden die Beschüsse zu einem ständigen Hintergrund der Stadtlebens. Manchmal haben sie die üblichen Straßengeräusche vollkommen ersetzt.

Ich hörte dieses trommelnde Knallen nachts, ich hörte es morgens, einmal klang es sogar fast melodiös, als Begleitung eines Sonnenuntergangs. Obwohl einige Gebäude in meinem Bezirk beschädigt und leider wieder und wieder getroffen wurden, war die Frontlinie während des Kampfs um Kiew nie so verletzt, dass ich eine dringende Notwendigkeit verspürte die Stadt zu verlassen.

Die Idee, dass etwas Bekannt-Fremdes, Feindliches und Vernichtendes ganz in der Nähe ist und immer näher rückt, eine Armee, die gedankenlos, beinahe automatisch mein Leben, meine Gesellschaft vernichten wird, sobald sie da ist, wurde mit der ersten Nachricht über den Angriff geboren.

Die Beschüsse waren und sind nur die Vorboten, Indizien der Entscheidung, dass die Arbeit, die eine Stadt, eine Straße, ein Zusammen-Leben zustande bringt, ja dass das Leben selbst, für „den Feind“, für das Nachbarland, nicht mehr zählt.

Dieses Leben, das mit so viel Sorgfalt und Kraft aufgebaut wurde, das im Kriegszustand nur mit Mühe oder kaum überlebt, wird endgültig beendet, wenn die Frontlinie durchbrochen wird, wenn die Stadt besetzt wird.

Das Konzept der Umerziehung („Denazifizierung“, „Demilitarisierung“), das die russische Kriegspropaganda verbreitet, ist eine postmortale Vision, etwas, das unter der Aufsicht „der Erzieher“ mit bereits Toten passieren soll.

Die erste Kriegsnacht verbrachte ich in der Wohnung meiner Eltern, in meinem ehemaligen Zimmer, umgeben von der Gegenstandswelt meiner Jugend. Gespenstisch sahen mich die Bücher an, die ich irgendwann einmal gekauft hatte. Die Spuren von allem, was passiert war in jener Zeit, als so ein Krieg gar nicht möglich war. Die Bilder meiner alten Freunde auf den Wänden schienen gegenwarts-realistischer als die alten Publikationen zu sein. Sie waren auf eine Art sprachlos und bereit, neue Bedeutungen in sich aufzunehmen.

Die friedliche Vergangenheit, die eigene Erfahrung aus der Zeit, wo der Krieg unvorstellbar war, zeigte sich an diesem Tag als ein ungeschütztes Territorium, als etwas Instabiles, über das, wie über die Zukunft neu entschieden werden konnte.

Die Erinnerungen können genauso besetzt werden, wie die Städte. Aber zumeist besitzen sie nicht die modernen Abwehrwaffen, um welche die Ukraine wieder und wieder bittet.

Die Angst, die eigene Vergangenheit in einer gegenwärtigen Gewalttat zu verlieren, ist vielleicht die einzige, die ich klar erkenne indem ich diesen Text schreibe.

Die Erinnerung, das Aufschreiben fällt schwer, die Sätze scheinen sich voneinander trennen zu wollen. Und doch spüre ich, wenn ich schreibe, dass die Ereignisse meiner Kindheit, von Krieg umgeben, anfangen, außerhalb der allumfassenden Frontlinie zu existieren.